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Leseprobe
Sherlock-
Holmes in Wandsbek
Seit zwei Wochen hatte es fast durchgehend geregnet, aber viel schlimmer war
für mich an diesem trüben Tage des Jahres 1885 der Gesundheits- und
Gemütszustand meines Freundes Sherlock Holmes.
Er ernährte sich praktisch ausschließlich von Tabak, und unser
Zimmer in der Baker Street 221 b erinnerte mit seinen Nebelschwaden
zusätzlich mehr an den bevorstehenden Herbst als an einen Julitag.
"Nun, Watson, hast Du Dir endlich etwas ausgeknobelt?"
Ich war froh, überhaupt wieder ein Lebenszeichen zu vernehmen.
"Ich weiß gar nicht...."
"Watson, was soll das Versteckspiel? Mit welcher Begründung sollen
wir denn zum Urlaub an die Elbe reisen?"
Wie schon so oft hatte mein Freund den Nagel auf den Kopf getroffen, und wie
schon so oft konnte ich nur staunen.
"Na, alter Freund, die Kombination ist doch so elementar, dass Du sie
Deinen Lesern lieber vorenthalten solltest."
"Aber ich ..."
"Schon gut, Watson, also: der Arzt und Freund in Dir ist ersichtlich seit
Tagen in zunehmender Sorge, ich möchte fast sagen Panik ob meines
unvernünftigen Umgangs mit meiner Gesundheit. Zuerst hast Du noch auf
einen neuen Auftrag gehofft, nicht zufällig hast Du immer häufiger
geradezu beschwörend am Fenster gestanden, und wenn Du Dich einmal soweit
zusammennehmen konntest, wenigstens die Zeitung zu lesen, schrecktest Du bei
jedem kleinen Geräusch auf, offenbar in der Hoffnung, es käme doch
jemand, um mich aus meiner Depression zu befreien. Und als Du mich sogar einmal
fragtest, ob ich nicht wieder Geige spielen wolle, was zugegebenermaßen
für Zuhörer nur schwer zu ertragen ist, habe ich mir endgültig
Sorgen über Deine Sorgen gemacht."
"Mein Gott Holmes, wie simpel, wenn Du es so erläuterst, dabei hatte
ich geglaubt..."
"Schon gut, Watson, die Sache mit dem Urlaubsziel ist ebenso elementar: Du
hast heute wieder Post aus Wandsbek, nach meiner Erinnerung einem Ort im Osten
Hamburgs, erhalten, und ich weiß auch, dass in Hamburg in knapp
einer Woche ein großes Schachturnier beginnt, und an dem der von Dir so
verehrte Meister Blackburne teilnehmen wird."
Ich konnte nur den Kopf schütteln.
"Genauso ist es, Holmes, und seit einer Stunde grüble ich erfolglos
über eine plausible Begründung, um das für mich Angenehme mit
dem für Dich Nützlichen oder besser Notwendigen zu verbinden. Mein
Wandsbeker Fernschachpartner schreibt ..."
"Zerbrich Dir nicht weiter den Kopf, alter Freund - ich komme mit! Ich
wollte eigentlich schon lange die Stadt kennen lernen, in der Matthias Claudius,
der Dichter des ergreifenden Kriegsliedes gelebt hat, eines Gedichtes, das wohl
inhaltlich weder seinem seinerzeitigen Landesherrn noch dem alten deutschen
Kaiser Wilhelm gefallen dürfte, vorausgesetzt, sie verstehen es... Aber
ich schweife ab - packen wir die Koffer!"
Drei Tage später hatten wir uns bereits im Hotel `Zum Stern' an der
Lübecker Straße angemietet, und ich stellte zu meiner Freude fest,
dass Holmes förmlich aufblühte. Gemeinsam besuchten wir
Musikveranstaltungen, wobei seine Vorliebe für deutsche Musik ihn
geradezu ins Schwärmen geraten ließ, und wir unternahmen lange
Spaziergänge durch die gepflegten Wandsbeker Gehölze. Wenn wir nicht
mit interessanten Leuten wie beispielsweise den Unternehmern Carl
Witthöfft, Leodegar Buck, Wilhelm A.C. Keim oder Heinrich Schwen bei
wohlschmeckendem Marienthaler Bier zusammen saßen, gingen wir auch
getrennte Wege.
Während ich mit dem `Plätteisen' nach Hamburg fuhr und fasziniert die
Partien des Großmeisterturniers verfolgte, vertiefte sich Holmes in die
Wandsbeker Geschichte und Literatur, und er konnte zu meiner Überraschung
schon nach kürzester Zeit in Diskussionen mit Ortseingesessenen wie den
Mitgliedern der Skatrunde Waldemar Schünemann, Ludwig Kuehn und Friedrich
Goldenstedt mithalten.
In der Erinnerung sind mir insbesondere zwei Begegnungen geblieben: die mit dem
jungen Bürgermeister Dr. Wilhelm Davids, der für mich als Arzt
besorgniserregende Indizien einer schweren Erkrankung aufzuweisen schien, und
ein Treffen mit Johann von Carstenn-Lichterfelde, dessen Konkurs einige Jahre
zuvor viele Wandsbeker als eine Art gerechter Strafe für den Abriss
des Schlosses 1861 empfanden.
Nachdem wir zunächst über die Einstellung der alten Pferdebahn
diskutiert hatten, ergriff Holmes das Wort.
"Die Gegenwart ist die Folge der mutigen Visionen der Vergangenheit - nur
wer kühn in die Zukunft blickt, wird der Gegenwart gerecht. Nimm nur die
beispielhaften Pläne zur Wasserversorgung Wandsbeks: So wünsche ich
mir auch unsere Politiker, Watson!"
Von Carstenn ergriff das Wort.
"Sie haben weitgehend recht, Mr. Holmes, obwohl ich rückblickend
nicht verkennen will, dass ich die Entscheidung der Wandsbeker
Fleckenverwaltung, die Gehölze vor der Parzellierung durch mich zu
schützen, inzwischen für visionär halte, obwohl sie den
Fortschritt, wie ich ihn damals definierte, aufhielt. In diesem Zusammenhang
darf ich anmerken, dass ich gerade vor dem Reichsgericht einen
Prozess um eine Rente führe, da ich der festen Überzeugung bin,
für die städtebauliche Entwicklung nicht nur Wandsbeks auch viel
Gutes getan zu haben. Sehen Sie sich nur die Entwicklung der Einwohnerzahlen in
Marienthal an! Die Leute reißen sich förmlich um die
Grundstücke - stellen Sie sich vor, vorgestern hat einer zwei Reichsmark
mehr für die Anmietung einer bestimmten Parzelle in der
Schillerstraße geboten, und bei drei Reichsmark mehr hat der
Eigentümer dann nachgegeben und den bereits mit einem anderen
abgeschlossenen Mietvertrag einfach zerrissen ... Ja, Geld regiert die Welt,
und die Verrückten sterben nicht aus."
Ich musste schmunzeln, aber Holmes runzelte die Stirn.
"Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es viel weniger Verrückte
gibt, als wir gemeinhin denken. Meist hat das scheinbar Verrückte einen
durchaus vernünftigen Hintergrund, und ich habe mir angewöhnt, mit
solchen Vorurteilen sehr vorsichtig umzugehen."
"Das ist ja noch nicht alles."
Von Carstenn ließ sich durch diese nicht nur von mir als unpassend
empfundene Zurechtweisung nicht beirren.
"Er hat dann die Wohnung, die er erst um fast jeden Preis haben wollte,
mit seinem Nachbarn getauscht und dafür noch einmal eine schöne
Stange Geldes ausgegeben - verrückt, nicht wahr?"
Holmes steckte diese freundschaftliche Provokation souverän weg.
"Ich bleibe dabei, dass das menschliche Handeln in der Regel viel
zielgerichteter ist, als wir meist annehmen. Jeder definiert Ziele und
Lebensqualität für sich selbst - sollen wir vorschnell urteilen, nur
weil wir diese Leitpunkte nicht erkennen?!"
"Du bist unverbesserlich, Holmes - aber ich kann Dir hier ja nur die
Arbeit verbieten, nicht die Philosophie."
Die Tage vergingen wie im Fluge, und auch wenn es mir nicht gelang, Holmes zur
Teilnahme an einer Tanzveranstaltung im `Schwarzen Bären' zu
überreden ("nur für Deine Menschenstudien, Holmes..."),
blieben mir doch die Diskussionen mit Wandsbeker Bürgern in angenehmer
Erinnerung.
"Stellen Sie sich vor, Mr. Holmes: Herr Walter, der Verrückte, ist
wieder aktiv geworden!",
überraschte uns eines Abends der Stadtbaumeister Nebendahl, nachdem von
Carstenn nach Berlin abgereist war.
"Jetzt hat er in seinem Garten einen riesigen Schuppen gebaut."
"Ich würde diesen ungewöhnlichen Herrn gerne einmal
kennen lernen",
erwiderte Holmes.
"Das wird nicht möglich sein. In den ersten Tagen und sogar schon vor
der Anmietung des ersten Hauses hat er zwar mit allen Nachbarn und vielen
älteren Leuten ausgiebig gesprochen, aber seitdem ist er praktisch Tag und
Nacht auf seinem Grundstück und kapselt sich völlig ab."
"Schade, aber ich denke, auch so wird sich das Rätsel - wenn es denn
überhaupt eines ist - bald lösen. Manchmal reicht der Blick in die
Vergangenheit aus, um das in der Gegenwart fehlende Glied zu finden."
"Holmes, Du hattest ..."
"Schon gut, Watson, ich weiß, ich bin hier im Urlaub..."
Am nächsten Abend saßen wir wieder gemütlich beim Marienthaler
Bier beisammen, als der Polizist aus der städtischen Polizeiverwaltung in
der Königstraße mit dem schönen deutschen Namen Müller,
der abends gerne seinen Streifengang für ein halbes Stündchen zu
unterbrechen pflegte, um bei unseren Diskussionen `Informationen für
seinen Dienst' - wie er es nannte - einzuholen, kurzatmig und mit hochrotem
Kopf hereingestürzt kam.
"Ein Mord, Mr. Holmes, ein Mord! Der Verrückte hat ..."
"Nun setzen Sie sich erst einmal, guter Mann, trinken Sie einen Schluck,
und dann erzählen Sie in Ruhe - wer ist tot, wie ist es passiert, welche
Beweismittel konnten Sie sichern oder wenigstens nicht zerstören?"
"Gestern hat sich ein Mann, der den Verrückten offenbar kannte, im
Hotel `Zum Alten Posthause' einquartiert. Als ich heute Nachmittag auf Streife
war, hörte ich plötzlich vom Grundstück Schillerstraße
Stimmen.
"Das lasse ich mir nicht gefallen - Du wirst mich nicht betrügen -
Was geht das Dich an - Habe ich Dich endlich gefunden - Mit mir nicht..."
Ich stürzte auf das Grundstück, und durch Einsatz meiner ganzen
Amtsautorität gelang es mir, die Streithähne auseinander zubringen.
"Es ist nichts, Herr Wachtmeister, gehen Sie ruhig weiter!"
Ich habe mich aber nicht davon abhalten lassen, durch Belehrung und Abnahme
eines festen Versprechens von beiden sicherzustellen, dass sie nicht
weiter gegen die Polizeiverordnung verstoßen würden, und bin dann
weiter meinem Dienst nachgegangen. Aber da ich ein pflichtbewusster und
mitdenkender Beamter bin, Mr. Holmes, bin ich eben noch einmal im `Alten
Posthause' gewesen, und stellen Sie sich vor, die Sachen des Fremden waren noch
da, er aber nicht!" "
Und daraus haben Sie zwingend geschlossen, dass er von dem so genannten
Verrückten umgebracht wurde?"
Holmes hatte Mühe, trotz des ernsten Themas ein Obsiegen des Schmunzelns
auf seinem Gesicht zu vermeiden.
"Gut, Herr Wachtmeister, klären wir die Sache auf. Watson, Du hast
zur Beruhigung dieses wackeren Staatsdieners Deine Pistole dabei - gehen
wir!"
Wenige Minuten später standen wir vor dem Schuppen, und ich muss
gestehen, dass ich doch etwas beunruhigt war, als ich nicht nur durch die
Bretter einen Lichtschein sah, sondern auch Grabegeräusche vernahm. Holmes
klopfte zweimal laut an die Tür.
"Machen Sie auf, Herr Walter, hier ist Sherlock Holmes."
Der berühmte Name trug wohl dazu bei, dass schon Sekunden später
der Riegel zurückgeschoben wurde. Holmes drückte den immer noch
puterroten Polizeimeister zur Seite und trat ruhig ein.
"Ich habe mir doch gedacht, dass Sie hier nicht Ihren Bruder begraben
wollen, obwohl es auf den ersten Blick fast so aussieht. Wollen Sie mir nicht
das letzte fehlende Glied in meiner Kette zeigen?"
Die souveräne Art meines Freundes machte offenbar einen nachhaltigen
Eindruck auf die beiden Männer, die auf einem aufgeworfenen Lehmhügel
hockten und deren Gesichter von grenzenloser Enttäuschung geprägt
waren.
"Ich verstehe es nicht, Mr. Holmes, ich verstehe es nicht - alles war doch
richtig - was habe ich nur falsch gemacht?"
"Ich verhafte Sie wegen, wegen..."
Müller, der seine Amtsautorität kurzfristig zurück gewonnen zu
haben schien, geriet ins Stottern.
"Ja, wegen welchen Deliktes? Ich meine, Müller, Sie sollten den
schweren Schlag, keinen Paragraphen zitieren zu können, verwinden, wenn
Sie sehen, dass Ihre Leiche offenbar nicht nur lebt, sondern auch
zumindest körperlich unverletzt ist. Nun zur Sache - wo ist der Grund
Ihrer Verzweiflung, meine Herren?"
Der ältere der beiden reichte Holmes einen zerknitterten Zettel, den
dieser kurz studierte und ihn dann mit einem Leuchten auf dem Gesicht an mich
weiterreichte.
"Lies vor, Watson, damit wir alle teilhaben an der Aufklärung dieses
kleinen Falles,"
"Ja, sagen Sie schon, was haben Sie dort vergraben, Herr Walter!"
Ein schrilles Lachen war die Reaktion auf diese Amtshandlung des treuen
Staatsdieners. "Ja, lesen Sie vor, Dr. Watson, und dann werden Sie alle
verstehen, warum ich darüber nur lachen muss."
"Die Früchte des Dreiecks wirst Du ernten, wo Asmus seine Botschaft
verbreitete: westlich der Hütte des Tees im Tal der Maria - was für
ein Unsinn, Holmes!"
"Mit Verlaub, Watson - was für ein Unsinn, dies als Unsinn zu
bezeichnen! Wenn Du Dich auch nur ein wenig für die Geschichte dieses
Fleckens interessiert hättest, läge die Lösung auch für
Dich auf der Hand. Also: mit dem Dreieck ist natürlich der sehr
einträgliche Dreieckshandel des Grafen Schimmelmann gemeint. Fertigwaren
an die afrikanische Goldküste - Sklaven nach Westindien - Rohstoffe nach
Europa - hast Du nie davon gehört, Watson? Und Heinrich Carl Schimmelmann,
der dänische Schatzmeister und Erbauer des Schlosses, hat mit diesem
ebenso genialen wie moralisch verwerflichen Handel ohne Leerfahrten sicherlich
viel Geld gemacht, wenn man das Wort verdienen vermeiden will. Und Asmus ist
natürlich niemand anders als Matthias Claudius, der `Wandsbeker Bote', es
war sein Pseudonym."
"Und als ich von der Parzellierung Marienthals nach Abriss des
Schlosses hörte, war für mich alles klar",
ließ sich Walter vernehmen, der sich offenbar etwas beruhigt hatte.
"Ich forschte nach und plötzlich offenbarten die beiden anderen
Bruchstücke, die Sie so plausibel erläutert haben, Mr. Holmes, ihren
Sinn. Ich vergaß zu erzählen - mein schwerkranker,
bettlägeriger Großvater hatte mir gegenüber Andeutungen
über ein Vermögen gemacht, doch dann starb er. In einer
verschlossenen Kiste fand ich dann diesen Zettel, den ich - wohl zu Recht - als
eine Art Schatzkarte ansah. Da ich aber die Örtlichkeit nicht zuordnen
konnte, hatte ich ihn schon fast vergessen, als ich von Marienthal las. Ich kam
nach Wandsbek, und mit Hilfe alter Karten und durch Auskünfte fand ich
heraus, wo sich das Teehaus befunden haben musste."
"Wobei Sie nach der geringen Ortskorrektur, die Sie wieder Zeit und Geld
kostete, sicher waren, den Rest Ihres Lebens nicht mehr arbeiten zu
müssen."
"Genau, Mr. Holmes, und nachdem mich gestern mein Bruder, der mich schon
länger gesucht hatte, gefunden hatte und wir uns nach einem ebenso kurzen
wie sinnlosen Streit geeinigt hatten, waren wir überzeugt, heute Nacht zum
Erfolg zu kommen."
"Jetzt verstehe ich auch, warum Sie die Hütte in der letzten Nacht
noch einmal versetzt haben, obwohl ich zugeben muss, dass Sie die
Spuren Ihrer Grabungen fast perfekt verborgen haben - mein Kompliment! Und
jetzt, wo Sie dort unten offenbar die westlichen Fundamente der Teehütte
ausgegraben haben, finden Sie..."
"Nichts, buchstäblich nichts, Mr. Holmes! Noch nicht einmal einen
Hinweis darauf, dass jemand uns zuvorgekommen wäre. Wo ist der
Fehler, Mr. Holmes, wo ist er ?!"
Tröstend nahm sein Bruder den Enttäuschten in die Arme, und Holmes
erklärte:
"Ich schlage vor, dass wir uns gemeinsam in die Gaststätte
Marienhof begeben, wo wir sicherlich den Stadtbaumeister Nebendahl um diese
Zeit antreffen werden. Ich denke, er wird uns die Lösung
erläutern."
Wie von Holmes richtig vermutet, saßen wir nur Minuten später
gemeinsam an einem großen Tisch, und nachdem Holmes berichtet hatte,
ergriff der Gefragte das Wort.
"Ich finde es faszinierend, Mr. Holmes, dass Sie mich im Besitze des
Lösungsschlüssels wissen, wobei ich die Zusammenhänge gerade
erst selbst durchschaue. Herr Walter, wir haben tatsächlich beim Abbruch
des alten Teehauses eine aufgebrochene Kiste und einige wenige Münzen
gefunden, wir konnten den Fund aber bis heute nicht zuordnen. Jetzt ist mir
alles klar."
"Aber wieso haben wir noch nicht einmal Grabespuren gefunden - an den
Westfundamenten des Teehauses ist bestimmt fünfzig Jahre nicht gegraben
worden, nicht wahr, Mr. Holmes?"
"Sie haben recht und doch nicht recht, Herr Walter. Sie haben bei Ihren
Ermittlungen einen ganz einfachen, aber für mich nachvollziehbaren
Denkfehler gemacht: es passte alles zusammen mit dem Manuskript, aber eine
entscheidende Säule haben Sie nicht auf ihre Standfestigkeit
überprüft, sondern einfach als wahr angesehen: Marienthal ist nicht
Marienthal!"
"So ist es",
ergriff Carl-Friedrich Nebendahl wieder das Wort,
"der Begriff Marienthal ist von Carstenn für das alte
Schloßgelände verwendet worden und hat sich schnell
eingebürgert. Das wahre Marienthal, so wie es in der Urkunde genannt ist,
war aber der von Friedrich Christian von Kielmansegg errichtete Witwensitz am
Südufer des Mühlenteiches, der später in eine Gaststätte
umgewandelt wurde. Dieses Grundstück hat der Magistrat vor zwei Jahren zur
Sicherstellung der Wasserversorgung für Wandsbek auf meinen Vorschlag hin
erworben, und auch dort gab es ein Teehaus, das aber bereits vor längerer
Zeit abgerissen wurde. Damals muss dann auch jemand zufällig die
Kiste und das, was in ihr war, gefunden haben, und er war offenbar so klug,
niemandem etwas davon zu erzählen. Es tut mir leid für Sie."
So endete diese Geschichte von einem Verbrechen, das gar keins war, und Holmes
pflegte mich immer dann an unseren Aufenthalt an der Wandse zu erinnern, wenn
ich einmal wagte, die Bedeutung der Geschichtsforschung für die
Kriminalistik zu leugnen. Er wählte dann immer die wohl nur für einen
Eingeweihten oder Ortskundigen verständlichen Worte: "Dat gelt nich
nur to Wandsbek!"
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